Es folgt eine Geschichte, die ich für meinen Neffen zur Geburt verfasst habe.
-Die zwei Königskinder-
Es waren einmal zwei
Königskinder, die lebten weit entfernt voneinander in einem riesigen
grünen Tal. Jedes lebte in einem Schloss, wobei die kleine
Prinzessin auf der rechten Seite des Tals lebte und der kleine Prinz
auf der linken. So wuchsen sie heran, Tag für Tag, und sie hatten
alles, was das Herz eines Königskindes sich nur wünschen konnte.
Ihre Eltern lasen ihnen jeden Wunsch von den Augen ab und es mangelte
ihnen an nichts.
Es kam der Tag, an dem
die beiden Königskinder, und es mag erstaunen, dass dies am selben
Tag passierte, ihren 18. Geburtstag feierten. Welch prunkvolles Fest
man auf beiden Talseiten zu sehen bekam: Essen, Musik und Geschenke
ließen beide Schlösser in einem unbändigen Glanz erstrahlen und es
wurde bis tief in die Nacht hinein gefeiert. Natürlich standen beide
Königskinder im Mittelpunkt, doch ziemt es sich von nun mehr nicht,
von den beiden als Kindern zu sprechen. Denn beide waren zu jungen
schönen Erwachsenen herangereift, jeder für sich eine besondere
Schönheit. Die Prinzessin mit ihrem langen ebenholzschwarzem Haar
und den blauen Augen war von jedermann gern angesehen. Der junge
Prinz hingegen stand ihr in nichts nach, auch er war eine besonders
schön anzusehen und wurde von jeder Frau des Königreichs bewundert.
Zwei Tage nach dem rauschenden Geburtstagsfest spielte sich nun in
beiden Schlössern folgende Szene ab:
Auf der rechten Talseite
kam nun der König zu seiner Tochter ins Zimmer und sprach zu ihr:
„Tochter, nun bist du kein Kind mehr, du bist nun in die Welt der
Erwachsenen eingetreten und bist ein Teil von ihr. Ich erwarte von
dir, dass zu heiratest und selber Verantwortung für das Königreich
übernimmst. Da du natürlich jemanden heiraten wirst, der deiner
gerecht wird, mache ich dir folgenden Vorschlag: Auf der anderen
Seite des Tals lebt ein junger schöner Prinz, der soll dein Gemahl
werden!“ Natürlich hatte die Königstochter schon lange auf den
Tag gewartet, an dem sie heiraten würde und die Beschreibung des
jungen Prinzen entsprach genau der Vorstellung eines Mannes, den sie
sich in ihren Träumen vorgestellt hatte. Also willigte sie freudig
in den Vorschlag ihres Vaters ein.
Auf der linken Seite des
Tals spielte sich gar ähnliche Szene ab: Auch hier trat der König
zu seinem Sohn und sprach die Worte: „Sohn, nun gehörst du zu den
Erwachsenen, ich möchte, dass du dir eine Frau suchst, die deinem
Stande angemessen ist und sie heiratest. Auf der anderen Seite des
Tals soll eine schöne Prinzessin leben, diese sollst du dir zur Frau
nehmen und mit ihr dieses Königreich führen!“ Auch der Prinz
willigte freudig in den Vorschlag seines Vaters ein, denn wer würde
nicht gerne eine schöne Prinzessin zur Frau haben wollen?
Da sich nun die beiden
auf die Vorschläge ihrer Eltern eingelassen hatten, nahmen sie nun
das Schicksal in ihre eigenen Hände: So schrieb der Prinz der
Prinzessin einen Brief, in dem er sie darum bat, in sein Schloss zu
kommen und seine Frau zu werden, eben so, wie man es zur damaligen
Zeit getan hatte. Doch zur selben Zeit verfasste die junge Prinzessin
einen ebensolchen Brief, in welchem sie den Prinzen darum bat, sich
auf die Reise zu ihrem Schloss zu machen, um sie dort zu seiner Frau
zu nehmen. Zeitgleich kamen die Briefe einige Tage später bei den
beiden an.
Doch keiner wollte von seinem ursprünglichen Plan
abweichen und auf die Einladung des anderen reagieren. Warum auch?
Schließlich waren sie es ja gewohnt, im Leben immer alles zu
bekommen, was sie sich wünschten. So schrieben die beiden viele
Briefe hin und her, jeder darum bemüht, den anderen dazu zu bewegen,
der Einladung zu folgen. So vergingen zwei ganze Jahre und keiner der
beiden wich auch nur einen Zentimeter von seinem eigenen Standpunkt
ab.
Bis der Tag kam, an denen
die Königseltern das Treiben ihrer Kinder nicht mehr mit ansehen
konnten! So schmiedeten sie zu viert folgenden Plan: Zwischen den
beiden Schlössern führte ein langer langer Weg entlang, der beide
Schlösser miteinander verband. Nun sollten sich der Prinz und die
Prinzessin zu Fuß auf den Weg machen, die jeweils andere Seite des
Tals zu erreichen. Der Punkt allerdings, an dem sich die beiden
trafen, war der Entscheidende, der er entschied darüber, wo die
beiden von nun an leben sollten. Lag der Punkt näher am Schloss der
Prinzessin, würden die beiden ihre gemeinsame Zukunft dort
verbringen. Lag der Punkt allerdings näher in der Reichweite des
Schloss des Prinzen, würden die beiden dort den Rest ihres
gemeinsamen Lebens verbringen.
So machten sich die
beiden auf den Weg. Immer noch voller Zorn darüber, nicht ihren
ursprünglichen Willen bekommen zu haben, dachte sich die Prinzessin
folgendes: Ich werde ganz einfach so langsam gehen, dass mich der
Prinz an dem Punkt abpassen wird, der ganz sicher in der Nähe meines
Schlosses liegt. So erhalte ich meinen Willen und bekomme zusätzlich
noch einen schönen Prinzen als Mann. Voller Freude über den eigenen
klugen Plan machte sich die Prinzessin nun auf den Weg. Schritt für
Schritt und Schritt für Schritt. Langsam und ganz langsam setzte sie
ohne jede Spur von Hast den Fuß nur zentimeterweise vor den anderen.
Doch sie wusste nicht,
dass der Prinz, ebenso erbost darüber, nicht seinen Willen bekommen
zu haben, genau diesen Plan auch hatte, denn er dachte bei sich:
„Warum soll ich denn zur Prinzessin eilen, wenn ich auch einfach
warten kann, bis sie meinen Weg kreuzt? Und wenn ich sehr langsam
gehe, dann wird sie mich an dem Punkt treffen, der ganz sicher in der
Nähe meines Schlosses liegt und so habe ich beides: mein Schloss UND
die Prinzessin!“ Also machte auch er sich auf den Weg und setze
langsam und betont ohne Eile einen Fuß zentimeterweise vor den
anderen.
So verging Tag um Tag und
Tag um Tag und die beiden entfernten sich nur langsam von ihrer
Heimat. Wären sie in einem normalen Tempo gegangen und wären sogar
so klug gewesen, und hätten sich für den Weg ein Pferd genommen,
selbst dann wären sie lange unterwegs gewesen. Doch zu Fuß und
getrieben vom eigenen Plan, sich nicht zu beeilen, dauerte der Weg
unendlich lang. Denn jeder der beiden legte am Tag nur wenige
Zentimeter zurück. So verging die Zeit und beide wurden immer
wütender darüber, dass der eigene Plan nicht zu funktionieren
schien. So schlichen sie weiter und weiter und dabei nahm die Wut in
ihren Herzen jeden Tag zu, so dass sie beide mit der Zeit völlig
verbittert wurden.
Doch nach mehreren Jahren
der mühseligen Reise war es dann endlich so weit: Die beiden sahen
jeweils in der Ferne den anderen auf sich zukommen. Und da sie beiden
genau im gleichen Tempo gegangen waren, trafen sie zeitgleich in der
Talmitte ein. Jeder war ganz genau gleich weit von dem Punkt
entfernt, der genau in der Mitte zwischen den beiden Schlössern lag.
Als die beiden das bemerkten, blieben sie stehen, denn schließlich
hatte keiner diese mühselige Reise auf sich genommen, um nun doch zu
verlieren und zu dem anderen zu gehen. Schließlich hätte er dann
klein beigegeben und nicht seinen eigenen Willen durchsetzen können.
Völlig erbost und verbittert durch die beschwerliche Reise und immer
noch voller Glaube an den eigenen Willen und Plan, schauten sich die
beiden an. Keiner war auch nur bereit dazu, dem anderen auch nur
einen Zentimeter
entgegen zu laufen, denn
das hätte den eigenen Plan zunichte gemacht. Irgendwann hielt es der
Prinz nicht mehr aus und sagte: „Nun komm schon zu mir, damit wir
endlich in mein Schloss einkehren und heiraten können!“ Doch genau
das wollte die Prinzessin vermeiden und erwiderte: „Ganz bestimmt
nicht, denn ich will, dass du mit zu mir kommst und bei mir lebst und
auf meinem Schloss mein Mann wirst!“ So ging der Streit hin und her
und keiner der beiden wich auch nur eine Handbreit vom eigenen
Standpunkt ab. Sie stritten sich und warfen sich böse Wörter an den
Kopf und die Sonne ging unter und wieder auf und abermals unter und
wieder auf. Die Jahre vergingen und die Zeit zog ins Land und immer
noch stritten sich die beiden und keine Lösung war in Sicht.
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[Quelle: http://www.natura-mystica.info/raum/ra19103SchwierWeg1645.jpg] |
Eines Tages, und es waren
in der Zwischenzeit viele viele Jahre vergangen, da starb der Prinz,
der mittlerweile alt und hässlich geworden war, denn Streit und Wut
lassen den Menschen seine eigentliche Schönheit schnell einbüßen.
Kurz darauf verließen auch die Prinzessin die Lebensgeister und ihr
Körper sank zu Boden, auch dieser durch die Jahre und den Zorn alt
und unansehnlich geworden.
So starben der Prinz und
die Prinzessin nur knapp entfernt von der gemeinsamen Mitte ihres
Weges, der dazu bestimmt war, sie eigentlich zueinander zu führen
und der ihnen eine schöne und glorreiche Zukunft versprochen hatte,
ohne sich auch nur einmal berührt zu haben, dabei hätten sie nur
die Hände nacheinander ausstrecken müssen...